Nordöstlich von London gelegen, am Meer, etwas mehr als zwei Autostunden von der City entfernt liegt Clacton-on-Sea. Die Küstenstadt ist die östlichste Gemeinde der Grafschaft Essex. Eigentlich kommt man hier als Tourist nicht her. Einer meiner ältesten Freunde hat unsere Trip durch Essex hinter dem Steuer zwar bravourös gemeistert (Danke an dieser Stelle), doch einmal im Kreisverkehr falsch abgebogen und schon waren wir in Clacton-on-Sea bzw. in Jaywick, ein Vorort von Clacton. Einmal rechts abgebogen und man befindet sich plötzlich in einer ganz anderen, von älteren und ärmeren Menschen geprägten Welt. In einer Welt in der die United Kingdom Independence Party (Ukip) eine Mehrheit hat. Mit ihr natürlich der Brexit.
Vor einem Jahr wurde in Clacton der Brexit von mehr als zwei Dritteln der Abstimmenden begrüsst. Offenbar denken sich viele Menschen das es viel schlimmer nicht mehr werden kann, also wieso nicht für einen Wechsel stimmen? Clacton-on-Sea, eine Innenstadt die von Spielhallen und 1 Pfund-Shops geprägt ist. Am Hauptplatz ein Mac Donalds. Am Strand sechs schwer erziehbare Jugendliche mit sechs Betreuer. Eine Pier die sich als ein Prater in schlechten Zeiten herausstellte. Kepab und Dönerläden die auch chinesische Spezialitäten anbieten. Menschen ohne Zähne im Mund und ohne Jacke bei 5 Grad Aussentemperatur, sprechen dich im unverständlichen Dialekt an. Die deprimierendste Stadt die ich je besuchen durfte. Wir fahren weiter die Küste entlang in den Vorort Jaywick.
Jaywick ist, wie sich herausstellte, offiziell der ärmste Ort Großbritanniens. Ein Brexit-Dorf. Für den Brexit haben in England nämlich vor allem die ärmeren Teile der Bevölkerung gestimmt – in Jaywick waren tatsächlich 70 Prozent dafür. Die schwierige soziale Lage in dem Städtchen ist auch weit weniger die Ausnahme, als dem Land lieb sein kann. Jaywicks Armut ist kein Sonderfall. In den Jahren 2007 bis 2017 lag das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in Großbritannien bei 0,025 Prozent im Jahr. Wenn man sich in Jaywick umsieht, sieht man Verwahrlosung und Armut gepaart mit der Hoffnung, dass es ohne Europa besser wird. Ein Irrglaube meiner Ansicht nach.
Wir fahren durch den Stadtteil Sands, wo sich Jaywicks Tristesse in voller Pracht entfaltet. Am Strand entlang verläuft hier eine graue Mauer. Eine Mauer die vor den Fluten der Nordsee schützen soll aber gerade so hoch gebaut wurde das sie den Blick auf das Meer verstellt. Die Menschen leben am Meer, sehen es aber nicht. Der Mauer folgt die Hauptstraße, von der in regelmäßigen Abständen Seitenstraßen abgehen. Diese Seitengassen bestehen aus Ein-Zimmer-Häuser, Wohnraum maximal 20 Quadratmeter. Ein paar der Gebäude sind aus Holz, andere gemauert. Eines vereint die Nachbarschaft, der Müll vor der Haustüre. Alte Couchen, rostige Waschmaschinen, Holzbretter und altes Baumaterial.
An einigen Stellen eingezäuntes Brachland, Plastik, Kloschüsseln und Pittbull-Hundescheiße. Mir drängte sich die Frage auf wie ein Ort am Meer, der an sich einen wunderbaren Strand hat, in einem der reichsten Staaten Europas dermaßen vor die Hunde gehen kann. 20 Kilometer weiter westlich gibt es die liebevollsten Ortschaften die regelrecht entzückend sind. Typische englische Countryside mit Menschen die mit ihren Gummistiefel die Gassi-Runde drehen und danach den Land Rover besteigen. In Jaywick sieht man keine Land Rover, wahrscheinlich auch nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU nicht.